„Eine Sorge der Kritiker besteht darin, dass mit der Akademisierung anthroposophischer Gedankeninhalte eine Verflachung und Sterilisierung derselben bewirkt werden könnte. Denn die begriffsrealistisch gebildeten Inhalte werden in die Form eines nominalistischen Wissenschaftsverständnisses gebracht. Eine nominalistische Auffassung würde aber nur dann zum Problem, wenn sie einseitig ihr Wissenschaftsverständnis als einzig legitime Form der Auseinandersetzung verstehen wollte. Aber auch der Realismus, der von anthroposophischer Seite angestrebt wird, ist nur dann wahrhaft, wenn die Gedankeninhalte tatsächlich real in der Aktualität des Denkens erlebt werden. In dem Moment, wo sie zur bloßen Form gerinnen, droht die Ausbildung eines dogmatischen Gedankengebäudes, mit dem die Welt belehrt werden soll. Die Rettung für beide Gefahren ist, die Sache immer wieder neu in Fluss zu bringen. Dafür bedarf es der engagierten Debatte.“
„Der Herausgeber ist im hiesigen akademischen Betrieb indessen so gut wie unbekannt. Er heißt Christian Clement, war einmal Lehrer an einer Waldorfschule in Würzburg und arbeitet heute als Assistenzprofessor für Germanistik an der Brigham Young University in Utah, einer konfessionellen Einrichtung, die der Kirche der Mormonen gehört. Ein Außenseiter also hat die Aufgabe übernommen, die Schriften einer der bekanntesten Figuren der deutschsprachigen Kultur im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu edieren. Das spricht nicht gegen ihn, sondern gegen eine Wissenschaft, die meint, sich ihre Gegenstände weniger nach Sachlage denn nach Interesse oder Sympathie aussuchen zu dürfen.“
„In der Einleitung zu seinem Werk vertritt Clement die Auffassung, dass die von Steiner geschilderten »imaginativen und inspirativen Phänomene, als solche, nichts als ›Halluzinationen, Visionen und Illusionen‹« seien. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie führe nicht zur Wahrnehmung wirklicher geistiger Tatsachen und Wesen, die außerhalb des sich in der Meditation selbst erlebenden Ich existieren. Clement deutet das Wort Imagination offensichtlich anders als das, wofür es bei Steiner steht. So behauptet er, dass Steiner die »Chakren« als »imaginative Illustrationen« seelischer und geistiger Prozesse gefasst habe, und der »sogenannte Astralleib und Ätherleib« usw. für ihn »bloße Visualisierungen bzw. Imaginationen« seien, um seelische und geistige Phänomene durch »sinnliche Bilder« vorstellbar zu machen. Anthroposophie als Visualisierung und Illustration? – In der Konsequenz erweist sich nach Clement die »anthroposophische Esoterik« nur als »Verbildlichung philosophischer Konzeptionen«.“
„Clement vertritt gegenüber den von ihm bisher herausgegebenen Schriften Rudolf Steiners (Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung und Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums) zwei Hauptthesen, die sich ebenso durch seine Einleitung, wie auch durch sämtliche Stellenkommentare gleich einer Konstante hindurch ziehen:
Zum ersten meint er nachweisen zu können, dass und wie Rudolf Steiner plagiierend und von anderen Autoren abschreibend seine beiden Bücher verfasst hat, und zum zweiten behauptet er, dass dieser im Grunde nicht die von ihm angegebenen Mystiker oder Philosophen behandelt habe, sondern sie lediglich dazu benutzte, um seine eigene «philosophische» Position darzustellen, die er allerdings auch zum großen Teil von anderen übernommen habe.
Damit zeichnet Clement das Bild eines Rudolf Steiner, der, um seine eigenen Ideen «an den Mann zu bringen» – deren Originalität allerdings fraglich sei – auf die damals gängige Literatur und Philosophie zurückgreift und aus dieser abschreibt. Stärker kann Rudolf Steiner und sein Werk nicht in Frage gestellt werden.“
„Doch was tun die meisten Mitglieder der AAG und viele Freunde der Anthroposophie heute? Sie lassen es zu, «dass Rudolf Steiner angegriffen wird, ohne es zu merken», um Marie Steiners Wort situationsgemäß abzuwandeln. Sie schlagen sogar Purzelbäume vor Begeisterung, fabulieren von «Nobilitierung» von Steiners Werk und dergleichen – offenbar in maßloser Eitelkeit darüber dankbar, dass die große Welt der «Wissenschaft» ihre bislang kleine Außenseiterwelt endlich einmal ernst zu nehmen scheint.“
„Clements Haltung gegenüber der Anthroposophie ist vergleichbar derjenigen von Helmut Zanders, auch wenn uns das Herr Hoffmann ausreden will. Beide stehen auf dem Standpunkt, dass Rudolf Steiner lediglich alte geheime Traditionen erforscht hat und nun neu aufleben lässt, „übersinnliche Forschung“ lediglich „eine Theorie“ sei.“
„Wissenschaftlich wäre es, wenn Clement seine stillschweigende Grundannahme thematisiert hätte – die Annahme, dass die ihm bekannte Erkenntnisart die einzig mögliche ist, dass es eine objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis des Geistigen durch Weiterentwicklung des Denkens, wie sie Steiner für sich in Anspruch nimmt, nicht geben kann –, und dann versucht hätte, Steiners Anspruch auf Geisteswissenschaft als auf einem Irrtum oder einer Selbsttäuschung beruhend zu widerlegen. Unwissenschaftlich ist es aber, sich die eigene Grundannahme nicht zum Bewusstsein zu bringen, sie stillschweigend als unumstößliches Dogma gelten zu lassen und Steiners Geisteswissenschaft zu verkennen, indem man sie als Ergebnis der üblichen Vorstellungs- und Theoriebildung darstellt. Und wissenschaftsfeindlich ist: Das eigene Dogma als Machtspruch walten zu lassen, der jeden der Unwissenschaftlichkeit zeiht und wirkungsvoll ausgrenzt, der sich wie Steiner nicht fügt. So kann man mit akademischer Vollmacht versuchen, das Entstehen einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit zu verhindern.“
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