Die „Schriften Kritische Ausgabe“ von Clement (C-SKA), kritisch betrachtet. Warum wir eine andere Ausgabe brauchen.
Laurenz Kistler
Laurenz Kistler
„Christian Clements auf 8 Bände angelegte kritische Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners will einen neuen Editionsstandard setzen, „an dem sich die künftige Anthroposophieforschung zu orientieren haben wird" (Clement). Diese Einschätzung durch Clement selber wird von der Rudolf Steiner-Nachlassstiftung, deren Archiv und Verlag und vom Vorstand am Goetheanum mitgetragen. Während der erst-erschienene Band 5 eine Kooperation zwischen dem Herausgeber Clement und dem Rudolf Steiner Archiv und Verlag anzeigt, ist ab dem zweit-erschienenen Band 7 nur noch von einer Vertriebszusammenarbeit die Rede. In den Bibliotheken des Rudolf Steiner Archivs und der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft stehen die drei bisher erschienenen Bände 5, 7 und 2 direkt bei der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA).
Die Ersterscheinung von Band 5 begründet Clement mit der Sonderstellung, welche die darin behandelten GA-Bände «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens . . .» und «Das Christentum als mystische Tatsache ...» im geschriebenen Werk Steiners einnehmen. Diese Werke seien besonders repräsentativ für den „work in progress"-Charakter von Steiners schriftlichem „Œuvre“.
In Band 5 weist sich der kritische Textapparat erst einmal durch fachlich-sachliche Genauigkeit aus. Clement ist dabei inhaltlicher Nachweis- und Abgleichbarkeit mit Schriften von Autoren aus der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein verpflichtet. Nun jedoch beurteilt und bewertet Clement über die Textanalyse einer kritischen Ausgabe hinaus die Schriften Steiners. Aber weil er auch da mit der herkömmlichen Methode der Wissenschaft arbeitet, vermag er Steiners einzigartigen Erkenntnissen und den geistigen Forschungsergebnissen, wie sie in der GA dokumentiert sind, nicht gerecht zu werden.
Clement gebraucht für seine Arbeit auch unveröffentlichte Vortrags-Mitschriften und vermag so die Textgenese in besonderem Maße zu erfassen. Dadurch sieht er sich mit den Gedankengängen Steiners dermaßen vertraut, dass er mit diesen mitgehen zu können vermeint und sie gar über Steiner hinaus weiterführt und Neues hinzuerfindet. Wo Steiner über Fritz Schultzes positive Aufstellung und das biogenetische Gesetz spricht, erfindet Clement ein ideogenetisches Gesetz bei Steiner und dessen strikt ideengeschichtliche Anwendung - weiter ausgebaut und verfeinert in «Rätseln der Philosophie» von 1914 und in «Anthroposophische Leitsätze» von 1924/25.
Es lässt aufhorchen, wenn Clement im Zusammenhang mit der Forschungsliteratur zu Mystik und Christentum von Steiners „provokativer Deutung" des Christentums und des Christus spricht. Steiner wollte weder provozieren noch deuten. Oder wenn Clement bezüglich des mystischen Grundzugs in Steiners Denken sagt: „Der Autor der Philosophie der Freiheit, der schon 1894 das Denken als Element des Ursprungs der Welt identifiziert hat und ein Jahrsiebt später nicht davor zurückgeschreckt ist, seine eigenen Denkerlebnisse für Aussprüche des Weltgeistes zu halten“.
Christian Clement ist dem Werk des Geistesforschers Rudolf Steiner nicht gewachsen. Untrügliches Zeichen dafür ist der Umstand, dass er dort, wo Steiners Erkenntnisse und geistige Forschungsergebnisse nicht mit Schriften anderer Autoren abzugleichen sind, eigene Interpretationen und Erfindungen in die Welt setzt. Das unsägliche ideogenetische Gesetz ist Beispiel dafür. Clement ist mit Steiner dermaßen überfordert, dass er von einem Ich Rudolf Steiners spricht, das sich „... zum Absoluten aufgebläht“ habe. Und weiter: „Die Anthroposophie als Weltanschauung ist unbestreitbar ein Kind der Verbindung des deutschen Idealismus mit der Deutschen Mystik im Denken Rudolf Steiners, ob ein legitim oder illegitim gezeugtes, soll hier nicht entschieden werden“.
Wenn nun Clement darauf besteht, mit seiner Arbeit einen „neuen Editionsstandard" zu setzen, „an dem sich die künftige Anthroposophieforschung zu orientieren haben wird", so weist dies auf eine grundlegende Strategie hin. Machen wir uns klar, dass Clement dort, wo er eigene Interpretationen und Erfindungen hervorbringt, in der Konsequenz Steiners Erkenntnisse und geistige Forschungsergebnisse ersetzt. Clement beansprucht damit nichts weniger als die Deutungshoheit über Steiners Schaffen.
In der akademisch-wissenschaftlichen Welt vergibt sich Clement mit seinen subjektiven Ansprüchen, Umdeutungen und Abqualifizierungen allerdings nichts. Dafür sorgt der Zeitgeist, für den Übersinnliches, Geist und geistige Forschung jenseits aller Wirklichkeit liegen. Genau deshalb wird Clements Arbeitsweise von dieser Welt als Ausweis für Unvoreingenommenheit, Selbständigkeit und Objektivität genommen werden.
Frank Linde hat in der November-Ausgabe 2015 der Zeitschrift «Die Drei» eine ausgezeichnete „Kritik an der Kritischen Ausgabe" zu Band 7 geschrieben. Wenn Linde nun feststellt, dass Clement in der Anthroposophie eine „bloße Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins" und in den Darstellungen des Geistesforschers „bloße Visualisierungen und Imaginationen innerer Erlebnisse" sieht und die anthroposophische Esoterik als „Verbildlichung philosophischer Konzeptionen" bezeichnet, so zeigt dies auf, dass Clement seinen Deutungsanspruch mit Methode betreibt. Rudolf Steiner ging es aber um die konkrete Erforschung der objektiven geistigen Wahrnehmungswelt. Die Objekte der geistigen Erkenntnis sind weder Halluzinationen noch selbstgeschaffene Bilder der Phantasie, sondern Tatsachen und Wesen der geistigen Welt. Am Beispiel der Samenkornmeditation spricht Steiner von der geistig sichtbaren Flamme eines realen Samenkorns als einer übersinnlichen Erscheinung und führt aus, dass sich die einstellende Imagination nicht als Geschöpf der eigenen Phantasie, sondern als wirkliches Wesen zeigt. Clement kann und will diesen Ausführungen Steiners nicht folgen und verkehrt das Ganze in sein Gegenteil.
Steiner schreibt: „Nun zunächst ganz äußerlich betrachtet, besteht die ganze imaginative Welt aus solchen Halluzinationen, Visionen und Illusionen" - bei denen man aber nicht stehen bleiben dürfe. Man müsse von dem, was erscheine, zu dem Eigentlichen hin, dem geistigen Wesen der Erscheinung, vordringen. Denn die nächste Stufe der imaginativen Erkenntnis zeige, dass die frei schwebenden Farben und Formen nur zunächst und äußerlich betrachtet einer Halluzination gleich käme und erklärt anschließend ausführlich, was im weiteren Verlauf der Meditation folge.
Nun aber verändert Clement den einleitenden Satz Steiners, indem er „zunächst und äußerlich betrachtet“ weglässt und den so abgeänderten Satz als die tatsächliche Aussage Steiners hinstellt. Weder zitiert noch erwähnt er die entscheidenden anschließenden Sätze. Er schreibt: „An der Beschreibung dieser Übung wird besonders deutlich, dass das Ziel der Meditation - und im Grunde das Ziel aller steinerschen Meditationsübungen - nicht darin besteht, irgendwelche metaphysischen Objekte oder Wesen wahrzunehmen, sondern vielmehr in der Verstärkung des inneren Erlebens, welches dann zur Hervorbringung eines inneren Bildes führen soll". Frank Linde schreibt, dass Clement damit implizit den Erkenntnisweg der Anthroposophie in Frage stellt.
In diesem Zusammenhang spricht Clement von einem Text Steiners, „der insgesamt dem im wissenschaftlichen Duktus verlangten abstrakt-begrifflichen und kritischen Duktus gegen den bildhaft-anschaulichen, aber auch autoritär-dogmatischen Ton des spirituellen Lehrers eintauscht" und resümiert: „Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes". Damit fällt Clement, wie auch Frank Linde findet, das Urteil über die Anthroposophie insgesamt. Linde schreibt, dass somit die Forschungsmethoden der Anthroposophie nicht zur Erkenntnis der wirklichen geistigen Welt und außerhalb des Menschen existierender geistiger Wesen führten.
In den Bänden 5 und 7 der C-SKA wird konsequent der Weg der Umdeutung Steiners gegangen. Clement will nicht verstehen, er will deuten. Seine Methode besteht darin, Rudolf Steiners Erkenntnisse und geistigen Forschungsergebnisse zu dem zu machen, was mehr oder weniger verdeckt, aber unverkennbar seine Strategie ist.
Bei der C-SKA dürfte es sich um die Beförderungsarbeit Clements vom assistant-Professor zum full-Professor an der Brigham Young University in Provo im US-Bundesstaat Utah handeln, einer konfessionellen Universität im Besitz der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" (Mormonen). Aus Band 5 lässt sich entnehmen: Gedruckt mit Unterstützung des Fachbereichs Geisteswissenschaften der Brigham Young Universität, Provo.
Ganz oberflächlich und unüberlegt nimmt sich nun die von Verantwortlichen des Rudolf Steiner Nachlasses wie auch der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft geäußerte Ansicht aus, Clements Aburteilung und determinierte Vereinnahmung Steiners und der Anthroposophie wären nur nebensächlich-persönlicher Natur.
Die wissenschaftliche Welt stößt immer wieder an ihre Grenzen und riskiert hier und da einen Seitenblick auf die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. 1911 schrieb Steiner: „Aber ein jeder, der auf dem Boden des echten, wahren Okkultismus wahrhaft steht, wird ihnen sagen, dass die Tendenz der Wissenschaft dahin geht, dass durch sie im Verlaufe von wenigen Dezennien auch diejenigen Dinge bestätigt und anerkannt werden, die wir heute noch nur aus okkulten Betrachtungen heraus sagen können". Soll dann wirklich nur die C-SKA vorliegen, welche offensichtlich nicht vermag, die Anthroposophie als Geisteswissenschaft vor der Welt und insbesondere vor der akademischen Wissenschaft sachgemäß zu vertreten?
Im Interesse der Sache braucht es eine andere SKA zu den Schriften und dem Vortragswerk Rudolf Steiners. Deren Einleitung und Stellenkommentare sollten die Grundmotive der Entstehung der einzelnen Werke aufzeigen und deren anthroposophischen und wissenschaftlichen Kontext ausweisen. Der sachgerechten und geisteswissenschaftlichen Darstellung und Behandlung der Erkenntnisse und geistigen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners käme besonderes Gewicht zu. Die Forderung nach einer solchen Ausgabe bedarf natürlich der ernsthaften Erörterung und Abwägung.“
Entnommen dem Heft „Mitteilungen aus der anthroposophischen Bewegung“, Nr. 131, Weihnachten 2016.
Herausgegeben von der Anthroposophischen Vereinigung in der Schweiz, Plattenstr. 37, 8032 Zürich.
Herausgegeben von der Anthroposophischen Vereinigung in der Schweiz, Plattenstr. 37, 8032 Zürich.
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