Freitag, 24. April 2015

Textkritik als Methode

GA 104, 17-6-1908
Es liegt vielleicht etwas fern, wenn man, um das Verhältnis von
der Anthroposophie zu den Urkunden dieser oder jener Religion
zu schildern — und heute werden wir es mit den religiösen Urkunden
des Christentums zu tun haben —, den Vergleich macht: Anthroposophie
verhält sich zu den religiösen Urkunden wie die
mathematische Lehre zu den Urkunden, welche im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung der Menschheit als mathematische Lehrbücher
oder Bücher überhaupt aufgetreten sind. Da haben wir ein
altes Buch, das eigentlich nur der mit der Mathematik bewanderte
Geschichtsforscher näher ins Auge faßt: die Geometrie des Euklid.
Sie enthält zum erstenmal in einer schulmäßigen Weise dasjenige
aus der Mathematik und Geometrie, was heute die Kinder in der
Schule schon lernen. Wie wenige aber dieser Kinder werden sich
dessen bewußt, daß alles das, was sie über parallele Linien, über das
Dreieck, über die Winkel und so weiter lernen, in jenem alten
Buche steht, daß es da zum erstenmal der Menschheit geschenkt
worden ist! Mit Recht erweckt man im Kinde das Bewußtsein, daß
man diese Dinge aus sich selbst einsehen kann, daß, wenn der
menschliche Geist seine Kräfte in Bewegung setzt und sie anwendet
auf die Formen des Raumes, daß er diese Formen einzusehen
imstande ist ganz ohne Rücksicht auf jenes alte Buch. Einer aber,
der vielleicht gar nichts gewußt hat von diesem Buch und die
mathematischen und geometrischen Lehren in sich aufgenommen
hat, er wird, wenn er es einmal kennenlernt, es in dem richtigen
Sinne würdigen und verstehen. Er wird zu schätzen wissen, was
derjenige der Menschheit gegeben hat, der dieses Buch zum erstenmal
vor ihren Geist hingestellt hat.
So möchte man das Verhältnis der Geisteswissenschaft zu den
religiösen Urkunden charakterisieren. Die Quellen der Geisteswissenschaft
sind so, daß die Geisteswissenschaft auf keinerlei Urkunden,
auf keinerlei Überlieferung angewiesen sein soll, wenn sie ihrem
richtigen Impulse nach verstanden wird. So wie uns das andere
Wissen der Menschheit die Erkenntnis der umliegenden Sinneswelt
dadurch verschafft, daß der Mensch seine Kräfte frei gebraucht,
so verschaffen uns die tieferliegenden, zunächst in der Menschenseele
schlummernden geistigen, übersinnlichen Kräfte und Fähigkeiten
die Erkenntnis dessen, was als Übersinnliches, als Unsichtbares
allem Sichtbaren zugrunde Hegt. Ebenso wie der Mensch, wenn
er seine Sinneswerkzeuge gebraucht, imstande ist, das, was sich dem
äußeren Sinnesscheine darbietet, wahrzunehmen, wie er imstande
ist, das Wahrgenommene mit seinem Verstände zu verbinden und zu
verknüpfen, ebenso ist der Mensch, wenn er die durch die Geisteswissenschaft
ihm überlieferten Methoden gebraucht, imstande, hinter
die Kulissen des sinnlichen Daseins zu schauen, dorthin, wo die
geistigen Ursachen liegen, wo die Wesen weben und arbeiten, die
das sinnliche Auge nicht sieht, die das sinnliche Ohr nicht hört,
wohl aber das übersinnliche. So liegt im freien Gebrauch der
menschlichen Kräfte, wenn sie auch bei einem großen Teil der
heutigen Menschheit als übersinnliche Kräfte noch schlummern,
die Quelle, die unabhängige freie Quelle geistigen Wissens, wie im
freien Gebrauch der auf die Sinneswelt gerichteten Kräfte die
Quelle des äußeren Wissens liegt. Dann aber, wenn auf irgendeine
Weise der Mensch sich in den Besitz der Erkenntnisse gesetzt hat,
welche ihn einführen in das Übersinnliche hinter dem Sinnlichen,
in das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren, wenn er sich davon ein
ebensolches Wissen erwirbt, wie es das sinnliche Wissen von den
äußeren Gegenständen und Geschehnissen ist, dann mag er, ausgerüstet
mit diesem übersinnlichen Wissen, ebenso an die Überlieferung
gehen, an die Bücher und Dokumente, an die Urkunden,
durch die im Laufe der Entwickelung Kunde zu den Menschen gekommen
ist über das übersinnliche Gebiet, wie der Geometer herantritt
an die Geometrie des Euklid. Und dann prüft er sie von einem
ähnlichen Standpunkt aus, wie der heutige Geometer die Geometrie
des Euklid prüft. Dann kann er diese Urkunden ihrem wahren
Wert nach schätzen und anerkennen. Und derjenige, der diesen
Weg geht, der wirklich ausgerüstet mit den Erkenntnissen der übersinnlichen
Welt herantritt an die Urkunden der christlichen Verkündigung,
für den verlieren diese Urkunden wahrhaftig nicht an
Wert. Ja, im Gegenteil, sie erscheinen in höherem Glanz, als sie
erst dem bloß gläubigen Gemüt erschienen sind. Sie zeigen, daß sie
tiefere Weistümer enthalten, als der Mensch früher vor der anthroposophischen
Erkenntnis geahnt hat.
Aber noch über eine Frage müssen wir uns klar werden, damit
wir die richtige Stellung gewinnen gegenüber dem Verhältnis der
Anthroposophie zu den religiösen Urkunden. Fragen wir uns einmal:
Wer ist der bessere Betrachter der Geometrie des Euklid, derjenige,
der die Worte des Buches wörtlich übersetzen kann und,
ohne erst eingedrungen zu sein in den Geist der Geometrie, den
Inhalt des Buches enthüllen will, oder derjenige, welcher erst Geometrie
versteht und daher auch die Geometrie in jenem Buch zu
finden weiß? — Denken wir uns einen bloßen Philologen gegenüber
dem Geometriebuch des Euklid, einen, der nichts verstünde
von Geometrie: wieviel Unrichtiges würde da herauskommen, wenn
er den Sinn des Buches enthüllen wollte!
So haben es viele mit den
religiösen Urkunden gemacht, selbst solche, die berufen sein sollten,
den wahren Sinn derselben zu ergründen. Sie sind an diese
Urkunden herangegangen, ohne daß sie erst, unabhängig von
ihnen, etwas wußten von dem, was über das Übersinnliche zu ergründen
ist. So haben wir heute recht sorgfältige Erklärungen der
religiösen Urkunden, Erklärungen, die alles zusammentragen aus
der Zeitgeschichte heraus, wie diese Urkunden zum Beispiel entstanden
sind, aber die Erklärungen nehmen sich ebenso aus wie
die Erklärungen der Geometrie des Euklid durch einen Nichtgeometer.
Erkenntnis der Religion — das wollen wir festhalten — ist etwas,
was man nur gewinnen kann, wenn man es mit Hilfe der auf
geisteswissenschaftlichem Wege gewonnenen Erkenntnisse betrachtet,
obwohl Anthroposophie nur ein Werkzeug des religiösen Lebens
sein kann, niemals eine Religion selbe
r. Religion wird charakterisiert
am besten durch den Inhalt des menschlichen Herzens,
des menschlichen Gemütes, jener Summe von Empfindungen und
Gefühlen, durch die der Mensch hinauf schickt das Beste, was er an
Empfänglichkeit in seiner Seele hat, zu den übersinnlichen Wesenheiten
und Kräften. Von dem Feuer dieses Gemütsinhaltes, von der
Stärke dieser Empfindungen, von der Art dieser Gefühle hängt der
Charakter der Religion eines Menschen ab, so wie von dem warmen
Pulsschlag in unserer Brust, von dem Gefühle für Schönheit es abhängt,
wie der Mensch einem Bilde gegenübertritt. Der Inhalt des
religiösen Lebens ist gewiß das, was wir die geistige, die übersinnliche
Welt nennen. Aber ebensowenig wie ästhetisch-künstlerisches
Empfinden dasselbe ist wie das, was wir nennen geistiges Erfassen
der inneren künstlerischen Gesetze — obwohl das geistige Erfassen
derselben das Kunstverständnis erhöhen wird —y ebensowenig ist
jene Weisheit, jene Wissenschaft, welche in die geistigen Welten
einführt, und Religion selber das gleiche. Diese Wissenschaft wird
das religiöse Empfinden, das religiöse Fühlen ernster, würdiger,
größer, umfangreicher machen, aber selber Religion will sie nicht
sein, wenn sie im richtigen Sinne verstanden wird, obwohl sie zur
Religion führen mag.


"Allein selbst Menschen, die verhältnismäßig ganz wohlwollend sind, auch denen, meine lieben Freunde, kommt das, was Geisteswissenschaft zu sagen hat, heute noch ganz sonderbar vor. Man kann doch nicht ohne eine gewisse Ironie dasjenige lesen, was ein sonst so hoffnungsvoller Geist wie Maurice Maeterlinck über mich selbst als den Begründer der Anthroposophie unter dem Titel «Das große Rätsel» sagt. Maurice Maeterlinck scheint nicht leugnen zu können, daß immer in den ersten Einleitungen meiner Bücher etwas ganz Vernünftiges steht. Das fällt ihm auf. Aber dann, dann kommt er in etwas hinein, was ihn ungeheuer verwirrt, wo er nicht durch kann. Nun, man könnte ja ein Wort Lichtenbergs variieren: Wenn Bücher und ein Mensch zusammenstoßen, und es hohl klingt, muß das ja nicht gerade vom Buch abhängen. Aber es ist ebenso - Maurice Maeterlinck ist gewiß eine Hochblüte unserer gegenwärtigen Kultur -, denken Sie doch, es findet sich bei ihm fast wörtlich der Satz: In den Einführungen seiner Bücher, in den ersten Kapiteln, da zeigt Steiner immer einen abwägenden, logischen, weiten Geist; dann in den weitern Kapiteln ist es, als ob er wahnsinnig würde. - Ja, nun, meine lieben Freunde, was hat denn aber das für eine Konsequenz? Das hieße ja: Erstes Kapitel: abwägender, logischer, weiter Geist. Letztes Kapitel: wahnsinnig. Nun ist das Buch fertig, nun kommt ein neues. Wiederum zuerst: abwägender, logischer, weiter Geist, zuletzt: wahnsinnig. Ich habe eine ganze Anzahl von Büchern geschrieben, so daß ich also diese Prozedur mit einer gewissen Virtuosität durchmachen würde: Erstes Kapitel: abwägender, logischer, weiter Geist; dann: verwirrt, verbohrt. Und so wird in meinen Büchern, nach Ansicht Maurice Maeterlincks, jongliert. Aber in der Art, daß man so willkürlich an die Sache herangeht, hat man es in Irrenhäusern doch noch nicht entdeckt." - GA 239, Prag, 5. April 1924

2 Kommentare:

  1. Dieser Vortrag des Gründers der Geisteswissenschaft ("Anthroposophie" meist genannt) zeigt auf, warum akademisch-universitäres Denken aus sich heraus an Rudolf Steiner als Person scheitern muß. Jetzt kann auch das "peinlich" von Herrn Prof. Dr. Clement verstanden werden, denn ein solches Urteil über das universitäre Denken, von Steiner persönlich ausgesprochen, kann nicht mit philosophischen Hilfskonstruktionen ausgehebelt werden. Es hat weiterhin Bestand. Insofern ist das Video mit Herrn Prof. Klüncker interessant, wie der Eingangsredner der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Wien den "Professor" fast in demütiger Weise vorstellt, weil da einer erstmals von der Universität kommt. Ich habe das Video noch nicht weiter angeschaut, mir fiel nur eine Äußerung von Herrn Klüncker auf, ungewohnt in der universitären Sprache, es habe ihn etwas "umgehauen", was ihn dazu bringt, Rudolf Steiner in vielen Dingen zu "revidieren". Soll das nun auch für den obigen Vortrag gelten?! Oder erweist sich jetzt im Zusammenklang, von Prof. Zander, Dr. Traub und Prof. Klüncker das eigentliche Anliegen der Universitäten, die Geisteswissenschaft Steiners so abzuschleifen, daß sie in das akademische Denken endlich passt, mit der Konsequenz Steiners Charakter, Lauterkeit anzuzweifeln, sogar stark so zu formulieren (Clement), als wollte der ewige Hungerleider Steiner sich endlich als Professor etablieren, einen Doktortitel "kaufen", um in der Wissenschaft ernst genommen zu werden, denn so sieht die Wertung von Prof. Dr. Clement aus, offen dargestellt von ihm, das brachte die Egoisten-Tätigkeit mit sich.

    Als ich heute Morgen im Deutschlanfunk hörte, wie in Wien die europäischen Meisterschaften im Straßenbahnfahren stattfinden, da erinnerte ich mich des Beitrages auf "Themen der Zeit", wie am letzten Karfreitag eine Person verstarb, die als kleines Baby auf den Armen der Mutter Vorträge Steiners in Wien erlebte und später als Kleinkind zwischen den Beinen Rudolf Steiners herumwuselte. In dem Nachruf von Wolfgang Voegele ist ein Hinweis angegeben, der zu dieser kurzen Biographie führte, in welcher neben dem interessanten Schicksal dieses Menschen auch ganz neue Details zu Rudolf Steiner und Marie Steiner sich wiederfinden. Mir persönlich hat auch die erstmalige Wahrnehmung einer Photographie des Bruders von Rudolf Steiner seelische Gefühle ausgelöst, wie er da auf einer Bank sitzt, ein besonderes Antlitz. Weiter berichtete Details zu erlebten Momenten mit Marie Steiner lassen aufhorchen, aber bitte selbst lesen:

    http://www.themen-der-zeit.de/content/Gertrud_Schmied-Hamburger_gestorben.1950.0.html

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    1. Nachtrag:

      der direkte link zu der kurzen Biographie:

      http://www.birkenrain.ch/publikationen/birkenblatt-2012/

      Eine Szene, wie die Mutter der Verstorbenen als junge Frau mit Rudolf Steiner in Wien einen Künstler besuchte, nachher mit ihm zusammen in einer Straßenbahn heimfuhr, tauchte mit der Nachricht im Deutschlanfunk heute morgen auf.

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